Polnischer Abgang

Am Wochenende hatten wir Weihnachtsfeier vom Sender. Während des Essens lullte uns unerbittlich seichte Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern des Restaurants ein. Die Woche steckte mir ohnehin schon in den Knochen, die Weihnachtsgans und der Alkohol taten ihr Übriges – mir fielen fast die Augen zu. Mir wurde schlagartig klar, dass ich den Rest des Abends nur unter Zuhilfenahme von viel mehr Alkohol überstehen würde, was sicher negative Auswirkungen auf meine Leistungsfähigkeit am Folgetag hätte. Als sich dann auch noch das Horrorwichteln in unerträgliche Längen zu ziehen drohte, weil selbst der Spielleiter von den eigenen Spielregeln überfordert war, besann ich mich auf ein altes Mack’sches Partymanöver, das ich schon lang nicht mehr angewendet hatte: Den polnischen Abgang.

Für alle, denen diese Feinheit des gesellschaftlichen Umgangs vielleicht nicht bekannt ist: Mit „polnischer Abgang“ bezeichnet man das unangekündigte Verschwinden von einer Fete, ohne sich vorher zu verabschieden. Eine scheinbar sehr beliebte Form der sozialen Nicht-Interaktion, gibt es doch sogar eine eigene facebook-Fanseite für den polnischen Abgang. Dort heißt es:

Bedeutet sich heimlich davon zu machen ohne sich von anwesenden Personen verabschieden zu müssen. Die Bezeichnung des polnischen Abgangs leitet sich von der Redewendung „sich davon stehlen“ ab.

Und:

Der polnische Abgang zählt zur klassischen Risikosteuerung. Er dient der Schadensbegrenzung beim Clubbing: der Handelnde (temporärer Pole) muss sich aus gesundheitlichen Gründen dem fortgeschrittenen, hedonistischen Treiben kurzfristig entziehen. Die mentale und/oder physische Kraft, andere davon in Kenntnis zu setzen UND gar noch davon zu überzeugen, ihn NICHT von seinen Plänen abzubringen, ist äußerst risikobefangen. Der polnische Abgang ist die einzige sichere Chance, ohne erhebliche Verluste aus der Szene ‚rauszukommen.

Der polnische Abgang hilft also die Kernproblematik eines jeden Abschieds von einer Feier zu nivellieren: Das lästige „Bleib doch noch!“, „Abknicker!“ und „Warum denn jetzt schon?!“, das einem entgegenschallt, wenn man seinen Entschluss die Festivität zu verlassen versehentlich öffentlich kundtut. Lange Verabschiedungsorgien, die einen gerne schon mal den letzten Nachtbus verpassen lassen, entfallen mit dem polnischen Abgang ebenfalls. Außerdem bleibt man im Gespräch, denn alle werden sich fragen, wo man plötzlich hin ist und sprechen einen garantiert bei nächster Gelegenheit auf das mysteriöse Verschwinden an.

Hätte beispielsweise der junge, aber offensichtlich als einziger in seinem Freundeskreis berufstätige Partyhengst aus der Nivea-Werbung von den phantastischen Möglichkeiten gewusst, die so ein polnischer Abgang bietet, dann hätte er sich die 8,99 für die reanimierende Gesichtspampe schenken können:

Interessanter Weise scheint der polnische Abgang innerhalb des gesamten westlichen Abendlandes bekannt zu sein: Selbst urbandictionary.com, das Internetlexikon für englisch-sprachige Slang-Termini kennt den „polish exit„. Hier finden sich auch die sieben goldenen Regeln des perfekten polnischen Abgangs (wobei Regel fünf natürlich streng genommen keine wirkliche Regel ist…):

1. Be sneaky.
2. No guilty conscience.
3. Don’t tell anyone.
4. Take advantage of the moment.
5. An anounced polish finish is a czech finish.
6. Don’t turn around.
7. Turn off your phone.

Im altehrwürdigen Oxford Dictionary wird der polish exit allerdings als „french leave“, also „französischer Abgang“ bezeichnet. Hier findet sich übrigens auch der überaus witzige Hinweis, dass der „french leave“ im Französichen als „filer à l’Anglaise„, also „verschwinden im englischen Stil“, bekannt ist.

Ein perfekter polnischer Abgang ist mir bei der Weihnachtsfeier aber offenbar nicht geglückt: Als ich schon im Treppenhaus auf dem Weg nach unten war hörte ich die schon leicht angeschlagene Stimme eines Kollegen aus der Lautsprecheranlage eine Etage über mir säuseln: „Christian Mack verlässt das Gebäude!“


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